Vom Moostock zum Mount Everest

Weit und hoch hinaus

Mit Erinnerungen hat sich dieser Mann nie begnügt. Neue Ziele waren ihm stets wichtiger als der Blick zurück. Hans Kammerlander wurde als sechstes Kind einer Bergbauernfamilie in Ahornach im Südtiroler Tauferer Ahrntal geboren. Die Mutter starb früh. Hans war erst zehn Jahre alt. Der Vater, Schuster und Bauer von Beruf, war ein strenger, aber gütiger Mensch. Die Erziehung übernahm die älteste Schwester. 

Als 8-jähriger bestieg Hans Kammerlander seinen ersten Berg. Heimlich folgte er einem Touristenpaar auf den Großen Moosstock (3059 m), oberhalb seines Heimatdorfes Ahornach. Erst am Gipfel wurde er entdeckt. Doch statt der erwarteten Ohrfeige gab es einen Apfel und einen grandiosen Ausblick, der das weitere Leben des Bergbauernbuben grundlegend verändern und nachhaltig bestimmen sollte. An diesem Tag begann ein Weg, von dem niemand ahnte, wie weit hinaus, und vor allem wie hoch hinauf er führen würde.

In den folgenden Jahren mehrten sich die alpinen Unternehmungen, und mit ihnen stieg das unkontrollierte Risiko. 1971 erfuhr der um zehn Jahre ältere Bruder Alois, der damals bereits in Bozen lebte und selbst ein begeisterter Kletterer war, von den waghalsigen Touren des inzwischen 15-jährigen Hans. Alois Kammerlander meldete seinen Bruder zu einem Kletterkurs an, damit er den Umgang mit Seil, Haken und Karabinern lernte. An der Seite des älteren Bruders unternahm Hans Kammerlander schließlich auch die ersten großen Klettertouren in den Nordwänden von Langkofel und Peitlerkofel. Vom Gipfel aus sah er weit entfernt sein Heimatdorf – und unzählige neue Ziele. 

Seine Freizeit war ausgefüllt mit Klettertouren, dem Sammeln von Gipfeln und extremen Bergläufen, die Kammerlander sechs Jahre lang auch wettkampfmäßig betrieb. Nur etwas mehr als eine Stunde benötige er für die 1600 Höhenmeter vom heimatlichen Hof bis hinauf auf den Dreitausender Moosstock. Die schwere Arbeit an den steilen Hängen des Bergbauernhofs und eben diese Bergläufe waren die Grundlage für seine bemerkenswerte Kondition und Zähigkeit und für sein Durchhaltevermögen. 

Die weitere alpine Entwicklung Kammerlanders wurde auch von außergewöhnlichen Freunden geprägt. Werner Beikircher war der Partner für die großen Touren im kombinierten Fels-Eis-Gelände und in den klassischen Nordwänden von Matterhorn, Eiger und Grandes Jorasses. 

Kammerlander erfüllte sich früh einen Lebenstraum und machte sein Hobby zum Beruf. Schon mit 21 Jahren legte er die staatlichen 
Prüfungen ab und wurde Bergführer und Skilehrer. Das war auch die Zeit,  in der er Friedl Mutschlechner kennen lernte. Der zur damaligen Zeit wohl beste Kletterer Südtirols wurde ihm zum Freund und Lehrmeister im schweren Fels der Dolomiten. Wenn die beiden nicht zusammen auf Tour waren, kletterte Kammerlander in diesen extrem risikoreichen Jahren immer häufiger auch allein – solo, ohne Seil und ungesichert.

Seinen Arbeitsplatz hatte er in der Alpinschule Südtirol von Reinhold Messner. Dort kletterte er mit Gästen in steilen Wänden, führte sie auf bekannte und weniger bekannte Gipfel, leitete Kurse und machte nebenbei mit zahlreichen Erstbegehungen auf sich aufmerksam.

Reinhold Messner öffnete Kammerlander schließlich 1982 mit einer gemeinsamen Expedition zur ersten Durchsteigung der Cho-Oyu-Südwestwand den Weg zu den ganz hohen Bergen der Welt. Das Unternehmen gelang zunächst nicht. Doch in den folgenden Jahren bestiegen die beiden gemeinsam und teilweise auf neuen Routen sieben der vierzehn Achttausender. Darunter waren so herausragende Leistungen wie die erste Begehung der Annapurna Nordwestwand und die erste Überschreitung zweier Achttausender an den Gasherbrum-Gipfeln im Karakorum. 1986 standen beide am Gipfel des Lhotse – als erster Mensch hatte Reinhold Messer alle vierzehn Achttausender bestiegen.

In der Folge setzte Hans Kammerlander seinen Weg fort und bestieg insgesamt 12 der 14 Achttausender. Immer häufiger wählte er eine Kombination schneller Aufstiege und den Einsatz von Skiern für den Rückweg. So gelang ihm 1990 die erste Abfahrt über die Diamir-Wand am Nanga Parbat. 1996 fuhr er als erster Mensch vom Everest über die Nordwand mit Skiern bis ins Basislager. Der Aufstieg zum Everest in 16 Stunden und 40 Minuten ist bis heute die schnellste Besteigung der Nordwand des höchsten Berges der Erde. Für Aufstieg und Abfahrt benötigte er 23 Stunden und 50 Minuten. 

Rund 40 Expeditionen hat Hans Kammerlander im Himalaja, dem Karakorum und anderen Teilen der Erde unternommen. Doch waren es nicht immer nur glückliche Stunden und Höhepunkte, die er an den Bergen der Welt erlebte. Es gab auch Dämpfer und herbe Rückschläge. Unternehmungen waren nicht immer von Erfolg begünstigt und gute Freunde verloren ihr Leben. Im Mai 1991, während einer Expedition am Manaslu in Nepal, starben innerhalb weniger Stunden der Grödner Karl Großrubatscher (Absturz) und Friedl Mutschlechner (Blitzschlag). Der Langtauferer Reinhard Patscheider, mit dem Kammerlander zusammen an der Annapurna unterwegs gewesen war, stürzte in den Alpen, am Grand Cobin, ab. Der Ahrntaler Luis Brugger blieb am Jasemba verschollen. Der Franzose Jean-Christof Lafaille, mit dem Kammerlander den K2 bestiegen hatte, kehrte vom Versuch einer Winterbegehung am Makalu nicht zurück. Und der Grödner Karl Unterkircher, mit dem Kammerlander die Erstbesteigung des Jasemba gelungen war, kam am Nanga Parbat ums Leben. Dennoch brach Kammerlander immer wieder auf, denn darin sah er stets die einzige Möglichkeit, die schweren Verluste und tragischen Ereignisse zu verkraften und zu verarbeiten.

Nachdem Hans Kammerlander den Gipfel des K2 erreicht hatte, reifte in ihm ein neues Ziel. Er wollte die zweithöchsten Gipfel aller sieben Kontinente besteigen. Diesen ehrgeizigen und bis dahin noch nie von einem Bergsteiger realisierten Plan, begann er 2009 in die Tat umzusetzen. Er bestieg nach dem K2 nun auch den Ojos del Salado in der Atacamawüste Südamerikas, den Gora Dychtau in Russland, den Mount Kenia in Afrika, den Puncak Trikora in Indonesien, den Mount Tyree in der Antarktis und den Mount Logan in Nordamerika sogar zweimal, nachdem es vorübergehend Irritationen darüber gegeben hatte, ob Kammerlander beim ersten Versuch den Hauptgipfel erreicht hatte. Er korrigierte den angeblichen „Fehler“ und beendete damit alle Diskussionen in der Öffentlichkeit. 2012 schloss er die eigene der beiden verschiedenen Summit-Versionen und damit dieses ehrgeizige, weltumspannende und sehr aufregende Projekt als Erster ab.

Kaum hatte Kammerlander die sieben zweithöchsten Gipfel bestiegen, wandte er sich einer neuen Aufgabe zu. Und bei der ging es erstmals nicht mehr um Höhen, Schwierigkeitsgrade und darum, der Erste sein zu wollen. Der Südtiroler entschloss sich 2013 dazu, den Wettlauf mit den anderen Extrembergsteigern zu beenden und es künftig ein wenig ruhiger anzugehen. Fortan sollte die Schönheit des Alpinismus im Vordergrund stehen und gleichzeitig das Abenteuer nicht weniger werden. Kammerlander begann auf der ganzen Welt nach einzigartigen Bergen zu suchen, die sich gegenseitig und im subjektiven Blick an Schönheit überbieten. Einzig ihr Aussehen, ähnlich dem des Matterhorns in der Schweiz, eint Kammerlanders „Matterhörner der Welt“. Der Shivling in Indien, der Stetind in Norwegen, die Ama Dablam in Nepal oder der Mount Assiniboine in den Rocky Mountains – dieses jüngste Projekt bietet ständig neue Blickwinkel.

Seit dem Frühjahr 2017 ist Hans Kammerlander Protagonist eines neuen, wiederum abenteuerlichen Projektes. Der österreichische Filmemacher Gerald Salmina und seine Produktionsfirma Planet Watch („Die Streif“, „Mount St. Elias“) wollen im Herbst 2018 das Leben von Hans Kammerlander auf die Kinoleinwände bringen. Im Mittelpunkt der Verfilmung steht eine Expedition zum 8163 Meter hohen Manaslu. 26 Jahre nach der Tragödie an diesem Achttausender, bei der Kammerlander zwei Freunde verlor, stellt er sich nun im Herbst 2017 noch einmal der großen Herausforderung, den Gipfel zu erreichen. „Ich möchte versuchen, diesen Weg zu Ende zu gehen, nur dann werde ich vielleicht über diese schrecklichen Ereignisse von 1991 hinweg kommen“, sagt Kammerlander, der den Gipfelgang zusammen mit seinem Nordtiroler Bergführerkollegen und Extrembergsteiger Stefan Keck wagen will. Wichtige Stationen und Schauplätze des Films sollen Kammerlanders Heimat Südtirol mit den steilen Dolomiten-Wänden und den Gletschern des Alpenhauptkammes sein, aber auch die spektakuläre Überschreitung zweier Achttausender im Karakorum zusammen mit Reinhold Messner und die legendäre Skiabfahrt vom Mount Everest. Die Dreharbeiten zu diesem Film beginnen im Sommer 2017. Als eines der vielen Highlights ist ein Besuch Kammerlanders beim Dalai Lama in dessen Exil im nordindischen Dharamsala geplant.

Kammerlander absolvierte bis heute rund 3500 Kletter- und Bergtouren auf der ganzen Welt, darunter 50 Erstbegehungen. Es gelangen ihm über 60 Alleinbegehungen im VI. Schwierigkeitsgrad, beispielsweise an den Drei Zinnen, der Civetta, der Marmolada, in der Sella-Gruppe und am Heilig Kreuzkofel. 15 Jahre lange führte Kammerlander die Alpinschule Südtirol, die er 1988 von Reinhold Messner übernommen hatte. 2003 übergab er sie an seine damaligen Stammbergführer. 

2002 wurde er in Berlin zum „Offiziellen Botschafter der Berge“ ernannt. Im gleichen Jahr erhielt er von den Provinzen Trient und Südtirol den „Rotary-Preis“ für seine besonderen Leistungen und Verdienste um Hilfsprojekte in Nepal. Kammerlander engagiert sich seit vielen Jahren für die „Nepalhilfe Beilngries“. In dieser Zusammenarbeit entstanden bislang 15 Schulen, ein Altersheim und ein Waisenhaus. Zu den großen Momenten seines Lebens zählen für Hans Kammerlander die beiden Begegnungen mit dem Dalai Lama, dem religiösen Oberhaupt der Tibeter und die Bekanntschaft mit Sir Edmund Hillary, dem Erstbesteiger des Mount Everest, der Kammerlander vor allem auch wegen seines sozialen Engagements in Nepal zum Vorbild wurde.

In den Sommermonaten ist Kammerlander in den Alpen und besonders häufig in den Südtiroler Bergen unterwegs. Viel Beachtung finden dabei seine 24- und 36-Stunden-Wanderungen, die zu den bedeutenden und anspruchsvollen Ausdauer-Events in den Alpen zählen.

Hans Kammerlander ist Jahrgang 1956, er lebt noch immer in seinem Heimatdorf Ahornach. Er hält zahlreiche Vorträge über seine Unternehmungen und berät Bergsportausrüster bei der Entwicklung von Outdoor-Produkten. Seit 2008 ist Kammerlander auch Inhaber eines Bergsport-Fachgeschäftes in Anif bei Salzburg.  www.alpstation.at

Er hat sieben Bücher (Abstieg zum Erfolg, Bergsüchtig, Am seidenen Faden, Unten und oben, Direttissima zum Erfolg, Zurück nach Morgen, Seven Second Summits – Über Berge um die Welt) publiziert. Darüber hinaus sind über Hans Kammerlander mehrere Fernsehfilme und zahlreiche Veröffentlichungen in Magazinen und Zeitschriften erschienen. 

Hans Kammerlander ist Vater einer Tochter und sein großes Hobby sind Oldtimer. 




Stand: Mai 2017

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